Theatergemeinde
München

Kultur-Vollzug / 07.06.2011

Nachdenken übers Theater: "Ein Ort der Erinnerung, wie es ist, lebendig zu sein"

von Michael Weiser

Wie erreicht die Bühne noch ein Publikum, und wenn ja, welches? Gedanken über eine nicht immer spannungsfreie Wechselbeziehung machten sich Bühnenprofis und die treuesten der treuen Zuschauer bei der Bundestagung der Theatergemeinden im Münchner Künstlerhaus. Motto: „Sehen und gesehen werden – das Theater und sein Publikum". Ein Diskurs mit gerade zu schon philosophischen und medienkritischen Untertönen.

Eigentlich sieht's doch ganz gut aus. Streit und Trubel über das Regietheater und hochfahrende Regisseure sind – bei den Zuschauern - einer gesunden Selbstverständlichkeit und bei den Theatermachern einer verstärkten Rückbesinnung auf Text und Handwerk gewichen. Und Theater stehen, den reinen Zahlen nach zu urteilen, in der Publikumsgunst so gut da wie schon lange nicht mehr. In so einem Maße waren die Häuser in den vergangenen 25 Jahren selten mit Publikum gefüllt oder „ausgelastet", wie Intendanten gerne mit Blick zum Wirtschaftsprüfer sagen. Häuser wie Augsburg oder beispielsweise das Münchner Volkstheater zählen auch in durchschnittlichen Monaten 90 Prozent und mehr.

Doch ist viel natürlich nie gut genug, viele Menschen finden nie den Weg in ein Sprechtheater, nach wie vor geht es für die Theatergemeinden darum, „jene Kreise der Bevölkerung wiederzugewinnen, die dem Theater verlorenzugehen drohen oder ihm schon verloren gegangen sind", wie es bei der Gründung 1951 hieß.

Die Profis scheinen da gerne behilflich zu sein. Johan Simons, Intendant der Kammerspiele, war ins Künstlerhaus gekommen, um seine Ansichten über Theater im allgemeinen und in Deutschland im besonderen mitzuteilen und ermutigte die Politik, sich stärker in den Kulturbetrieb einzumischen. Nicht nur, weil die Politik sich damit zu einem wichtigen Teil des Lebens bekennen würde, den sie ja schließlich auch mit Steuergeldern mitfinanziert, sondern auch, weil sich Simons von einer politischen Kontrolle auch ein Mittel gegen Kulturfilz und künstlerische Inzucht erhofft. „Die Politik soll die Kultur eindeutig unterstützen."

Wenn man sich erinnert, wie der Direktor des Hauses der Kunst Chris Dercon zu seinem Abschied von München das starke Engagement ausgerechnet von konservativen Politikern lobte, ist man geneigt, Simons rechtzugeben. Ein Lob hatte der Niederländer auch für das Münchner Publikum: Viel risikobereiter und offener als die englischen oder niederländischen Leidens- und Genussgenossen.

Eine Leidensfähigkeit, die man aber nicht überstrapazieren dürfe durch verkopftes oder oberflächliches Theater, da waren die folgenden Experten einig. „Das Publikum geht heute in einen Liederabend und hört sich morgen anspruchsvollen Jazz an", sagte der Konzertveranstalter Andreas Schessl. „Man darf das Publikum nicht unterschätzen, indem man es in Schubladen steckt."

Nur: Wie schätzt man sein Publikum richtig ein? Eine verbindliche Ästhetik, ein für Akteure wie Zuschauer verbindliches kulturelles Leitbild wie die Kulturnation oder ästhetische Erziehung gibt es eben nicht mehr. An die Stelle des idealisierten einen Publikums ist die Fragmentierung in verschiedene Publica getreten. Wie man sein Spezialpublikum abholt, macht das Beispiel Migrantentheater deutlich. Berliner Häuser wie Ballhaus Naunynstraße und Heimathafen Neukölln inszenieren harte, zeitgenössische Stoffe.

Ähnliches gilt für die Stadttheater, die ihre Zielgruppenorientierung durch den konkreten Bezug auf die Verhältnisse ihres Gemeinwesen erreichen. Das Theater Augsburg etwa erreichte mit seinem Stück „Die Weber" über die Vergangenheit des einstigen Manchester des Südens eine riesige Resonanz. Man soll auf dem Dierig-Gelände weinende Zuschauer gesehen haben. Seinen Kollegen von anderen Stadttheatern schrieb Markus Trabusch, stellvertretender Intendant des Theaters Augsburg, allgemein die Hochachtung vor dem eigenen Publikum ins Stammbuch: „Das Publikum in Augsburg ist von dem in München nicht zu unterscheiden." Höchstens vielleicht in puncto Enthusiasmus: Bei den "Webern", gespielt in echten Fabrikhallen, musste man im Winter schon wirklich unempfindlich gegen Kälte sein.

Zu einer der großen Erfolgsgeschichten der Münchner Theaterszene ist das Metropoltheater in Freimann geworden. Dessen Intendant Jochen Schölch beschrieb sein Credo als eine Art gesunder und selbstbewusster Widerborstigkeit auch gegen die Vorstellung eines Spezialpublikums: „Wir bieten nicht die Erfüllung einer Erwartungshaltung, sondern stellen eine ästhetische Behauptung in den Raum, an der man sich reiben kann."

Dennoch: Kino hat meistens mehr Action, niemand verspricht sich, und außerdem kann man dazu noch Popcorn mampfen. Warum also noch ins Theater? Vielleicht, weil vom Zuschauer mehr als Konsum verlangt ist. „Die Bereitschaft, sich anzustrengen, ist Teil des Vergnügens des Rezipienten", sagte C. Bernd Sucher. „Theater muss immer eine Herausforderung für den Zuschauer sein." Auch wenn Theater Vorwissen des Zuschauers benötigt, damit der die Zeichenfülle überhaupt deuten und interpretieren kann, klang es schon verwegen, als Sucher den Bildungstest für Theaterbesucher einforderte: „Der Schulabrecher kann nicht das Maß der Dinge für Regisseure und Intendanten sein."

Vielleicht gehen die Menschen auch ins Theater, weil sie nicht wissen, wie's ausgeht? Weil sie im Zeitalter einer umfassenden Virtualität Sehnsucht nach dem Echten, dem Nichtwiederholbaren, dem Lebendigen haben.

In einer Zeit, da Computer und Internet für einige Menschen schon das reale Leben verdrängt haben und Fernsehfilme zur Not auch unabhängig von einem festen Termin angeschaut werden können, zählt das Erlebnis Theater auch bei der jüngeren Generation wieder mehr (wer daran zweifelt, begebe sich mal ins Volkstheater, vorzugsweise bei einer Inszenierung von Simon Solberg). „Es zählt, dass Theater live ist", sagte Schölch, „es zählt die Möglichkeit des Scheiterns, Theater als ein Akt auf dem Hochseil." Virtuosität, das Vorführen von Fähigkeiten, so der Mann vom Metropol-Theater, „das ist durch." Wie es schon Simons meinte, der das Theater als „Erinnerungsort" bezeichnet hatte: „Als Ort der Erinnerung daran, wie es ist, lebendig zu sein."

Wie aber können die Theatergemeinden die Pilgerströme bislang Unbeleckter zu jenen Erinnerungsorten geleiten? Nicht so sehr durch niederigere Preise, sagte Theatergemeinden-Bundes-Präsidentin Ingeborg Bogner. Es gehe vielmehr darum, Orientierung zu bieten und Interessierten die Hand zu reichen und Hemmschwellen abzubauen. Da ist was dran; bei so manchen Zeitgenossen, die an den Kammerspielen vorbeschlendern, denkt man an Karl Valentin: Mögen täten wir schon wollen, nur dürfen haben wir uns nicht getraut.

Mit freundlicher Genehmigung von Kultur-Vollzug, dem digitalen Feuilleton für München.

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